Profile und Utopien. Bericht der AG Daten und Netzwerke 2014/2015

Nach der Publikation der Beiträge zur Frage „Was ist Datenkritik“ im Freiburger E-Journal „Mediale Kontrolle unter Beobachtung“ (2014, hrsg. von Marcus Burkhardt und Sebastian Gießmann) lagen die Schwerpunkte der AG-Arbeit auf Fragen der Digital Humanities bzw. digitalen Methoden und Kontrolltechniken in digital vernetzten Medien. Anlässlich des letztjährigen Workshops „Reverse Engineering Digital Methods“ der AG Daten und Netzwerke – in Kooperation mit dem Digital Cultures Research Lab der Leuphana Universität Lüneburg – startete die Interviewserie „Talking about Digital Methods“. Die Interviews geben Einblick in die gegenwärtige Auseinandersetzung um Data Mining, um Zugänglichkeit und Agency von Daten sowie um Evidenzpraktiken, Narrationen und Methodenreflexion. Expertinnen aus unterschiedlichen Disziplinen beantworten darin drei Fragen nach ihrem Verständnis und Potenzialen und Grenzen digitaler Methoden.

Das Panel „Netzwerke überwachen“ auf der GfM-Jahrestagung „Medien|Recht“ in Marburg 2014 intensivierte – mit Vorträgen von Dietmar Kammerer, Christoph Engemann und Samuel Sieber – die Arbeit an den medialen Bedingungen nach Edward Snowdens Enthüllungen. Was passiert in einer Welt, in der Netzwerke Netzwerke überwachen? Ein geheimdienstlicher Verbund aus „fünf Augen“ zapft materielle Netzwerke an (Unterseekabel), schöpft digitale Netzwerke ab (Google, Facebook), um Metadaten zu sammeln die Auskunft geben über (terroristische und andere soziale) Netzwerke … Die auf dem Panel diskutierten verschiedenen Wissensordnungen von Netzwerken und ihre Daten-Praktiken bildeten die Grundlage für die Fragen des dritten Workshops der AG, der vom 3. bis 4. Juli 2015 an der TU Braunschweig stattfand. Unter dem Titel „Profile: Individualisierung, Kollektivierung und Klassifizierung durch Daten“ wurde einerseits das datenkritische Programm der AG Daten und Netzwerke weitergeführt und andererseits die für Surveillance Studies grundlegende grundlegende Frage der Subjektivierung in digitalen Öffentlichkeiten diskutiert.

„Profile“ (Bericht von Andreas Weich)

Die Initiative zum Workshop ging dabei von einem Vorschlag aus der vorigen Veranstaltung „Reverse Engineering Digital Methods“ aus – und zielte auf ein Thema, das sowohl für medienwissenschaftliche als auch mediensoziologische und kommunikationswissenschaftliche Perspektiven und Fragestellungen attraktiv ist. Nach ersten konzeptionellen Überlegungen zu einem Workshop zum Thema Profile/Profiling durch Theo Röhle, Andreas Weich und Julius Othmer (Braunschweig) erweiterte sich der interdisziplinäre Kreis der OrganisatorInnen auf Jan-Hendrik Passoth (München), Jan-Hinrik Schmidt (Hamburg) sowie Martin Degeling, Katja Grashöfer und Bianca Westermann (Bochum). Der Ansatz des Workshops war es, „Profil“ als Begriff und Konzept, sowie verschiedene Ausprägungen und damit verbundene Praktiken der Profilierung im Spannungsfeld zwischen Selbstprofilierung und dem Profiliert-Werden zu diskutieren.

Die Grundlage hierfür bildeten sechs Texte, die im Vorfeld in einem Reader an alle Teilnehmenden verschickt wurden. Eingeleitet durch eine kurze Einlassung mit ersten Fragen an die jeweiligen Autoren durch eine der OrganisatorInnen ergaben sich von Beginn an produktive Diskussionen – trotz einer Außen-Temperatur, die zwischen erfrischenden 29 und sportlichen 38 Grad Celsius lag.

ANDREAS BERNARD (Lüneburg) ging in seinem Beitrag „Profil, Erfassung, Selbstdesign“ der Geschichte des Profils und insbesondere seiner Umcodierung innerhalb der letzten 25 Jahre nach. Von einem Medium zur Erfassung und Darstellung von Abweichung wandelt es sich dabei zu einem Medium des Selbstdesigns. Ein Profil zu haben, wird damit zur Normalität und umgekehrt z.B. in Sicherheitsdiskursen das Fehlen eines Facebook-Profils gerade zu einem Verdachtsmoment.

ANDREAS WEICH (Braunschweig) gab unter dem Titel „Sich profilieren und profiliert werden – zur (Medien-)Genealogie zweier Seiten einer Medaille“ einen komprimierten Überblick über die semantische Geschichte des Profil-Begriffs und argumentierte anschließend an historischen Beispielen, wie der Schattenrisstechnik oder dem „Anthropometrischen Labor“ Francis Galtons, dass das Sich-Profilieren und das Profiliert-Werden historisch vielfach konstitutiv miteinander verwoben sind und z.B. aktuelle Privacy-Diskurse vor diesem Hintergrund neu zu bewerten sind.

FABIAN PITROFF (Kassel) rückte mit „Profile als Labore des Privaten? Profile als Instanzen einer Neuverhandlung von Privatheit und Personalität“ die Wechselbeziehung von bestimmten Personalitäts- mit bestimmten Privatheitskonzepten in den Fokus und argumentierte über Gouvernementalitäts-, System- und Akteur-Netzwerk-Theorie, dass sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt Personalitäten konturiert hätten, die auf Pflege, Erreichbarkeit und Komposition zielen. Profile in Online Social Networks veranschlagte er dabei als Möglichkeiten, neue Privatheits-Konzepte für diese neuen Personalitäten zu generieren und zu erproben.

NIKOLAUS LEHNER (Wien) modellierte in seinem Beitrag „Das digitale Selbst zwischen Doppelgängertum und Post-Entfremdung“ Konstellationen aus Datenspuren, die oftmals mit „Data Doubles“ oder auch „Datenschatten“ bezeichnet werden, über die literarische Figur des Doppelgängers. Er ging von einer Renaissance der Doppelgängerfigur in der Spätmoderne aus, nachdem diese im 20. Jahrhundert zunächst marginalisiert worden sei. In digitalen Medien komme dem Doppelgänger unter neuen Vorzeichen die wichtige Funktion einer produktiven, ja sogar subjektkonstitutiven Entfremdungserfahrung zu.

MARTIN SCHMITT (Potsdam) gab in „Der informationalisierte Mensch. Datennutzung und Datenschutz deutscher Sparkassen in der Kundenkreditvergabe von 1968 – 1990“ einen konzisen Überblick über das Aufkommen von Credit Scoring-Techniken, in denen Profile von potenziellen KreditnehmerInnen zu einer Kennzahl verrechnet wurden, die dann Einfluss auf die Kreditvergabe und -bedingungen z.B. in Form des Zinssatzes hatte. Banken veranschlagte er dabei als eine der ersten Institutionen, die den Wert personenbezogener Daten erkannten und ökonomisch operationalisierten.

MARTIN DEGELING (Bochum) stellte unter dem Titel „Googles Interessenprofiling“ Ergebnisse aus seiner Studie vor, in der er mehrere hundert simulierte Nutzer automatisiert Seiten besuchen ließ und die resultierenden Interessenprofile, die bei Google daraufhin erstellt wurden, analysierte. Neben zentralen technischen Verfahren arbeitete er heraus, dass die Interessenprofile zwar umfangreich und unvermeidlich, dabei aber ungenau seien – und das auch, um Kontingenz für ökonomische Dynamiken zuzulassen.

Die Diskussionen der Texte generierten weitere interessante Themen und Fragen – so wurde verschiedentlich die Rolle von Profilen zwischen Präskription und Deskription diskutiert, die Frage der Stiftung von Kohärenz bzw. umgekehrt von Fragmentierung, die Produktion von Kommensurabilität, die produktiven bzw. gar subjektkonstitutiven Effekte von Profilen aufgeworfen, sowie die Schärfung des Profilbegriffs als Desiderat formuliert. In einer geplanten Publikation soll neben der Veröffentlichung der Beiträge versucht werden, aus der Runde der Teilnehmenden heraus in kurzen Statements diese Fragen zu bearbeiten.

„Utopien“

Für die Bayreuther Jahrestagung zu Utopien hat die AG ein Panel „Kritik und Praxis: Spielräume digitaler Utopien“ konzipiert. Denn im digitalen Zeitalter herrscht kein Mangel an Utopien. Technische Träume gehören ebenso wie Versprechen neuer und vor allem besserer Kultur-, Gemeinschafts- und Lebensformen zu den Spielräumen des digitalen Kosmos. Jenseits aller Heilsversprechen und Schreckensszenarien entpuppt sich die digitale Wirklichkeit stets als vielschichtig, spannungsgeladen und heterogen. Vernetzung, Kollaboration, Partizipation, Transparenz und Offenheit stehen Überwachung, Automatisierung, Zentralisierung und Intransparenz gegenüber.

Inmitten dieser Gemengelage werden Fragen nach der Ausgestaltung des digitalen Lebensraumes immer wieder neu drängend und dringend. Wie kann, soll und darf Zukunft unter dem Vorzeichen des Digitalen aussehen? Was sind Visionen, die entwickelt werden wollen? Und was ist gegenwärtig von den Utopien vergangener Internettage geblieben? Welche Ideen sind zu „konkreten Utopien“ (Bloch) geworden? Diese und weitere Fragen sollen im Workshop der AG Daten und Netzwerke diskutierend ausgelotet werden. Betrachtet werden sollen dabei nicht nur Utopien, die mögliche Zukünfte entwerfen, Hoffnungen artikulieren und Alternativen präsentieren, sondern auch Strategien, Taktiken und Bemühungen diese abstrakten Projektionen zu konkretisieren. Im Spannungsfeld von Kritik und Praxis soll debattiert werden, mit welchen Utopien die digitale Medienwelt und ihre Erforschung experimentiert: Welche Spielräume der Intervention und Mitgestaltung gibt es? Kann die kritische Reflexion der Medienumwelt produktiv gewendet werden? Ist medienwissenschaftliche Forschung in Zeiten von Big Data selbst eine digitale Utopie?

Anknüpfend an Inputs von Clemens Apprich, Marcus Burkhardt, Sebastian Gießmann, Katja Grashöfer, Irina Kaldrack und Theo Röhle will der Workshop einen Raum für gemeinsame Diskussionen über die Spielräume digitaler Utopien eröffnen.

Die Aktivitäten der AG können weiterhin zeitnah über unsere Mailingliste (Abonnement per Mail an Sebastian Gießmann oder Irina Kaldrack) und unser gemeinschaftliches Weblog verfolgt werden, für das wir uns immer über Beiträge freuen: https://datanetworks.wordpress.com.

Sebastian Gießmann (giessmann@medienwissenschaft.uni­siegen.de)
Irina Kaldrack (kaldrack@leuphana.de)

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